Meine Schwester ist eine Überlebenskünstlerin. Sie hat vieles im Leben durchgemacht und eine Vielzahl von Neuanfängen gewagt.
Als ich das letzte Mal ihren Rat suchte, sagte sie zu mir etwas, von dem mir nicht bewusst war, dass ich es von einer anderen Person hören musste, bis ich es tatsächlich tun konnte. Lass alles los, um dich selbst zu finden.
Dass ich Ballast mit mir rumschleppe, ist mir schon seit langem bekannt. Ebenso ist mir bewusst, dass mich dieser Ballast runterzieht. Und dass meine Unfähigkeit loszulassen mich unten hält. Seit nahezu 15 Jahren bin ich Sklave meiner ungezügelten Triebe, denen ich unter dem Schein von ICH-KANN-MACHEN-WAS-ICH-WILL freie Hand liess. Das augenscheinlichste Symptom meiner Freiheit sind die ungesunden Nachtaktivitäten, die sich mit der Zeit entwickelten. Angefangen mit Fantasy Romanen unter der Bettdecke lesen, über Laptop im Bett und später Nächte langes "lernen" bis hin zum Fallenlassen der Fassade und offenes konsumieren von jeglicher Unterhaltung die Online zu finden war: Games, Filme, Pornos, Serien, YouTube Ratgeber wie man ein besseres Leben führt, Animes, Kdramas, Cdramas uvm. Zwei Studien habe ich abgebrochen aufgrund dieses Lasters. Bzw. deutlicher gesprochen aufgrund dessen, dass ich meine Triebe nicht im Griff hatte und ich nach Lust und Laune gelebt habe. - Ich muss zur Vorlesung. Ach, eine Episode geht noch, dann gleich Laptop packen und auf den Zug rennen. ... Oh, Mist. Jetzt ist es auch zu spät, wenn ich fliegen könnte. Dann machen wir halt krank. - oder - es ist 0300 zwei ein halb Stunden Schlaf reichen. Oh, so ein Pech. jetzt ist schon Mittag, dann halt morgen. - Ich habe Prüfungen und Praktika versaut. Ich wusste genau, woran ich gescheitert bin, konnte aber nicht loslassen.
Über die Jahre habe ich die ein oder andere Schlacht gewonnen und das Licht gesehen. Jedoch jedes Mal, wenn ich die Kontrolle hatte oder zu haben schien, liess ich die Deckung fallen und schlipfte natürlich wieder in die alten Bahnen. Nach X-facher Wiederholung des Musters resignierte ich. 4.5 Jahre lang habe ich gekämpft 5.5 Jahre lang suhlte ich im Selbstmitleid. Auf die Frage wie es mir ginge war die Antwort stets: "Ich bin am Leben" - Tief im Inneren war mir bewusst das ich nicht lebte. Ich hatte alle biologischen Anzeichen, dass ich am Leben war. Aber Leben konnte das nicht sein.
In diesem inneren Zustand, in der Resignation zu hören: Lass alles los, um dich selbst zu finden, fühlt sich an wie das Sprengen von Ketten.
In den letzten 10 Jahren waren dies meine Strategie: Ich merze all meine Fehler im stillen Kämmerchen aus und präsentiere mein perfektes ICH der Welt, meiner Familie, Freunden, meiner Traumfrau. Nach 10 Jahren stellte ich fest: Scheisse 10 Jahre sind vergangen und ich bin keinen Schritt näher am Perfekten-ICH. Meine Familie und Freunde sind noch da, auch wenn die Beziehungen gelitten haben, aber meine Traumfrau ist weg.
Lass alles los, um dich selbst zu finden. Der starke Mann, der ich war, vertraute ich mich niemandem ab. Nicht meiner Familie, meinen Freunden oder der Traumfrau. Es war deutlich spürbar, dass ich ihnen zu der Zeit mehr Ärgernis als Freude war. Die Blicke und Fragen: Wieso hat er das Studium abgebrochen? Wie konnte er zweimal dieselbe Prüfung nicht bestehen, wenn er ein Jahr Zeit zwischen den Terminen hatte. Die Tränen meiner Mutter, die Endtäuschung meines Vaters, nicht in Worten aber im Blick und Gestik, dass Kopf hoch! meiner Geschwister und Freunde und die wortlose Reaktion meiner Traumfrau brennen heute noch. Diese Empfindung verstärkte das Gewicht des Ballasts umso mehr. Er drückte mich in mein stilles Kämmerchen, welches immer mehr zu meiner Welt wurde. Ich isolierte mich. Zog mich zurück und kapselte mich ein. Ich war am Leben aber innerlich Tod. Der Kampf brachte keinen Triumph, sondern nur Niederlagen. Es zerbrach vieles in mir, was mir sonst halt gab. Die Scherben wurden dem Ballast zugefügt. Und ich sank und sank bis ich schliesslich aufgab. Die einzige Plattform, die mir Ausgleich schaffte oder eine Möglichkeit bot Gefühle frei zulassen war das Internet. Die Filme und Serien, vor allem Kdramas. Wenn mir nach Lachen zu Mute war, schaute ich eine Komödie, wenn ich Tränen loswerden musste, schaute ich Tragödien. Wenn ich sie vermisste, schaute ich mir eine Schnulze an. Ich war und bin immer noch unfähig Gefühlen richtig zu begegnen und ihnen das richtige Ventil zu bieten. Ich weiss genau welche Kdrama Episoden ich zum Lachen, Weinen ua. abzuspielen brauche. (Meine Schwester hat mir bzgl. Gefühlen auch einen Anstoss gegeben, dies wird aber Gegenstand eines anderen Artikels). Die Worte meiner Schwester waren, wie eine Absolution. Sie weckten totgeglaubtes wieder auf und mein Innerstes regte sich. Diesen Ballast einfach loszulassen, die Fesseln einfach abzustreifen, die ich mir selbst angelegt habe, schaffte Klarheit im Kopf. Es zeigte was für ein verblendeter Trottel ich war. Aber diesen Trottel kann ich zum Glück auch einfach liegen lassen. Lass alles los, um dich selbst zu finden.
Ich habe vor zwei Jahren die Lehre begonnen und bin dann ein halbes Jahr später ausgezogen. Mein Cousin, mit dem ich zusammengezogen bin, hat die Fähigkeit in einem Gespräch dich an deine tiefsten Abgründe zu führen, die du bis dahin sorgsam zu umschiffen gesucht hast. Und er zwingt dich fasst in diese hinabzustarren. Zu Beginn unseres gemeinsamen Wohnens assen wir täglich zusammen und er führte mich in jedem Gespräch in mein Innerstes. Er zeigte mir auf, das weniger in mir zerbrach als ich selbst angenommen hatte. Man musste das ein oder andere ausgraben, abputzen und polieren. Er hat grosse Vorarbeit geleistet. Ansonsten wäre ich nicht fähig gewesen die Worte meiner Schwester aufzunehmen. Allgemein bin ich unglaublich dankbar für mein Supportsystem. Meine Familie und Freunde. Ich liebe jeden einzelnen und bin ihnen unendlich dankbar für die letzten Jahre.
Lass alles los, um dich selbst zu finden.
Ich habe neuen Mut ins Leben zu gehen, ins Ungewisse. Ich muss meinen Weg nicht sehen, die nächsten 20 Meter genügen. Wie meine Schwester am selben Abend noch sagte. In den nächsten Tagen besuche ich meine Traumfrau. Ich hoffe uns beiden Closure zu bringen.
Lass alles los, um dich selbst zu finden.

Comments